Das Ritual

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Das Ritual 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Letzte Blätter wirbelten von den Bäumen. Eine Elster flog unruhig hin und her, setzte sich auf die Spitze des kahlen Lindenbaumes vor dem winzigen Fenster, verharrte.
Linda gelang es nicht, sich zu konzentrieren; sie schien jegliche Orientierung verloren zu haben. Wo war draußen. Drinnen. Oben. Unten.
Verwirrt schaute sie um sich. Alle Konturen verschwammen in dem kahlen Raum. Längst Verstorbene wurden lebendig an den weißen Wänden, näherten sich ihr bedrohlich, wisperten, neigten die Köpfe im Gebet, rollten die Augen, öffneten lautlos ihre Münder.

Plötzlich war das Schreckensbild in rotes Licht getaucht. Ein Schrei zerriss die Stille. Rauchwolken stiegen auf. Menschen fielen übereinander her. Wälzten sich stöhnend zwischen Gräbern.

"Reiß dich zusammen", murmelte Linda, "bald ist der Spuk vorbei. Nur erinnern musst du dich, erinnern."

Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen, wippte sie auf dem Holzstuhl vor, zurück, vor, zurück, vor zurück…

*

Der Himmel schien niedrig. Kalte Luft wehte vom Friedhof herüber. Ab und zu tauchte der Vollmond zwischen die dunklen Wolken, hüllte die Gräber, die kahlen Bäume, das ganze Szenarium in sein gespenstisches Licht.
Das Kind wusste nicht, wie sie an diesen Ort gekommen war. Auf dieses umgedrehte Kreuz, auf dem sie regungslos lag.
Gestalten in roten Kaputzenmänteln mit einem auf dem Rücken eingestickten schwarzen Kreuz näherten sich ihr schwankend, hielten lodernde Fackeln in ihren Händen, liefen andächtig in einer Reihe hintereinander, sangen leise beschwörend eine Melodie, die ihr bekannt vorkam.
Der monotone Singsang erinnerte an Unheil. Schmerz. Tränen. Sie musste ihren Körper verlassen. Diese Wehr hatte sie gelernt in all den Jahren der Qual.
Wie ein verschrecktes Tier verkroch sie sich in eine dunkle Ecke des Friedhofs und beobachtete das Ritual:

Der Körper des Kindes war nackt; er zitterte vor Angst und Kälte.
Sie hatte schon andere Kinder auf dem schwarzen Kreuz liegen sehen, den Dolch blitzen, das Blut an ihm schimmern im hellen Schein des Vollmonds; sie hatte die Schreie gehört, das unterdrückte Stöhnen, wusste: der Altar war zum Opfern da.

Mit weit geöffneten Augen starrte sie in den Mond, der seine ganze Schönheit gerade entfaltet hatte.
Sie durfte sich nicht bewegen, musste stillhalten, folgsam sein, sie war die Auserwählte.
Tief atmete sie den rauchigen Duft des Feuers. In seinem flackernden Licht waren die Gesichter der Gestalten nicht zu unterscheiden, auch nicht die Körper, die in einer plötzlichen Bewegung erstarrt waren.
Warmes Öl tropfte auf ihren starren Körper; sie stieß einen langen Seufzer aus.

Die mystischen Gestalten wiegten sich wieder im rhythmischen Tanz, wirbelten wie Gespenster um sie herum.
Plötzlich spürte sie die Kühle der Nachtluft stärker, die kahlen Bäume wippten gespenstisch über den dunklen Gräbern, der Mond war verschwunden, der Gesang verebbt, die tanzenden Gestalten nochmals in der Bewegung erstarrt.
Ein Hohepriester begann mit vertrauter Stimme zu lesen:

"Ein Bastard soll nicht in die Versammlung des Herrn aufgenommen werden; auch seine Nachkommenschaft bis ins zehnte Glied soll nicht in die Gemeinde des Herrn kommen." - (fünftes Buch Moses, 23:2)

Langsam schritt der Hohepriester auf sie zu, legte seine Hand auf ihre Stirn und murmelte:

"Geist der Höllenbrut. Fahre hinaus aus dem verdorbenen Körper. Verlasse diese fleischliche, widerliche Hülle. Diesen Sündenpfuhl! Lege dein Gelübde ab, Diener des Satans zu sein."

Er salbte ihren nackten Körper, wickelte sie in weißes Leinen, nahm sie auf seine Arme, hielt sie der wartenden Menge entgegen und sprach mit lauter Stimme:

"Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn durch sie ist das Königreich der Hölle."

Die Menge antwortete im Chor:

"Gepriesen sei Satan, denn er ist der Herr über alles. Er ist der Herrscher der Finsternis. Verdammt sei Gott, denn er ist der Herr über nichts."

Der Hohepriester legte sie auf den Altar zurück, befahl ihr, aus dem Becher zu trinken, den er ihr hinhielt. Gehorsam tat sie es. Der Becher fiel ihr aus der Hand. Der Wein, den sie getrunken hatte, machte sie schwindlig, umnebelte ihre Sinne; sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe.
Der Priester öffnete das weiße Leinentuch und begann mit dem teuflischen Ritual.
Als sie den ersten Schnitt des Dolches spürte, floh sie entsetzt, leise wimmernd, ihrem geschändeten Körper.

Auf dem Altar lag jetzt Linda. Ihre langen Locken umhüllten den Kreuzstein wie ein schwarzes Totentuch. Dunkle Augen brannten übergroß aus einem reglosen Gesicht.
Sie schien nicht sehr überrascht, sich unter diesen Gestalten zu finden. Sie konnten sie nicht mehr erschrecken mit ihren starren Augen, den angemalten Gesichtern.
Etwas Schlimmes würde geschehen, etwas überaus Grausames. Unmenschliches. Dämonisches.

Doch sie war bereit. Das geschah ihr immer. Deshalb war sie gekommen. Freiwillig. Und der Schmerz und die Scham würden alles, wo auch immer sie war, ihr nur allzu vertraut erscheinen lassen.
Sie hatte keine Drogen erhalten, die ihre Reaktionen hätten abtöten können. Sie war hellwach, als der scharfe Dolch zwischen ihre Beine schnitt, das Blut aus ihr lief. Sie spürte nichts, als ihr der Priester lächelnd ihr eigenes Blut zu trinken gab. Sie schmeckte nichts. Und sie fühlte noch immer nichts, als Männer und Frauen eindrangen in ihre geschändete Nacktheit.
Sie wusste, dass die Dinge, die da geschahen, wehtaten. Doch sie fühlte keinen körperlichen Schmerz. Sie wusste: Die Handlungen waren beschämend. Doch sie fühlte keinen emotionalen Schmerz. Und sie wusste: Sie würde sich rächen. Ja, eines Tages würde sie sich rächen, und mit ihr all die anderen, die sie als Teile von sich selbst empfand.
Deshalb war sie gekommen. Sie. Linda.

Endlich waren die vermummten Gestalten es müde, sie zu quälen; sie wandten ihre Aufmerksamkeit einander zu, zogen sich erregt in Paaren vom Feuer zurück, um ihren eigenen Absonderlichkeiten zu frönen, lachten, tanzten, tranken immer mehr Wein, legten ihre roten Wollkutten ab, vereinten, nackt, wie sie waren, ihre Körper in sinnlichem Rasen aus Blicken, Berührungen, Gerüchen.

Linda erwachte im Dämmer des Morgens auf dem verlassenen Friedhof. Verschwunden waren die mystischen Gestalten, der Mond hing ungerührt am Himmel.


*

Ein Schlüsselbund klapperte überlaut, ein Schlüssel drehte sich geräuschvoll im Schloss der Zellentür.

"Frau Hass. Zum Verhör!"

Nur langsam fand Linda in die Realität, lächelte, folgte dann entschlossen der Wärterin. Ja, heute würde sie ein Geständnis ablegen. Ja, sie hatte ihn umgebracht. Erstochen mit dem blutigem Dolch. Diesen Satansanbeter. Diesen Hurenbock. Diesen Hohepriester!

Mit stolz erhobenem Haupt schritt die Frau den langen Gang entlang.


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



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