Das tiefe Loch

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Das tiefe Loch 

                                                                                   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tot sein. Es wäre wunderbar. Man schläft und schläft. Wacht auf in einer anderen Welt. Allen Schmerz wird man vergessen haben. Allen Kummer. Und man wird noch mal von vorn beginnen können. Ohne Erinnerung an das vergangene Leben.

"Komm, meine liebe Guste", sagte sie zu ihrem Spiegelbild, während unsicht bare Tränen ihre Wangen hinab liefen. "Wage diesen winzigen Schritt. Alles wird gut. Spring über deinen Schatten. Hab Mut. Du wirst dein Kind wiedersehen. Es hat diese Welt verlassen, ohne sie betreten zu haben. In der anderen Welt wird es leben können. Und irgendwann wird auch dein Apoll dort sein. Du gehst ihm nur voraus. Einer geht dem anderen immer voraus." Wieder wischte sie über ihre Augen. Aber sie waren leer. Tote haben keine Tränen, dachte sie traurig und sagte: "Ich  gehe. Ich gehe ins Wunderland der Toten."

Nachdem Guste sich mit diesem Gedanken vertraut gemacht hatte, fühlte sie großes Glück und unendliche Freiheit. Bisher hatte sie sich nicht ernsthaft mit Tod und Sterben befasst. Sie glaubte auch nicht an ein Leben nach dem Tode. Sie würde zu Erde werden, aus der der Mensch geformt ist seit Adam und Eva. Sie würde in einem schönen Sarg liegen, gebettet auf weichen, weißen Kissen, bestreut mit roten Rosen. Und alle, die sie liebten, würden weinen und trauern. Ein Priester würde das Hohe Lied des Salomo predigen und sie dann hinab gesenkt werden in die Erde. Und später würden die Würmer sich durch den Sarg bohren und ihr Fleisch fressen. Und auch ihre Knochen würden eines Tages zerfallen. Ja, Erde zu Erde. Sterben sei alltäglich, hatte sie irgendwo gelesen. Besitze Schönheit. Es flösse dahin. Von einem Augenblick zum anderen. Der Augenblick müsse vergehen, damit Neues entstehen könne. Und der Tod sei die Vollkommenheit, nach der wir strebten unser Leben lang. Doch jetzt wollte sie die Vollkommenheit so nicht. Sie wollte ein Leben nach dem Tod und träumte sich in ihrer Verwirrtheit ein Wunderland der Toten. Entschlossen wandt sie sich ab von ihrem Spiegelbild und verließ das Schlafzimmer. Sie lief auf die Straße und kaufte in fünf verschiedenen Apotheken eine Unmenge Schlaftabletten. Alles um sie her erschien ihr seltsam. Kam ihr bekannt vor. Und war doch so fremd. Die Menschen bewegten sich so langsam. Wackelten lustig mit den Köpfen. Schnitten ulkige Grimassen. Verrenkten ihre Glieder. Gafften sie neugierig an aus ihren toten Augen. Und aus ihren schwarzen Mundlöchern hingen lang und zerfetzt die bleichen Zungen. Und in ihren weißen Gesichtern schien alles Licht erloschen.

"Ihr lebt noch. Ihr seid noch nicht tot."

Und geboren aus ihren toten Tränen wurde aus aus Hass Mitleid und aus Mitleid Schmerz.

"Ich gehe, es wird Zeit."

Wieder Zuhause, holte Guste das schwarze Totenkopftuch mit den hellen kleinen Totenköpfen und den großen weißen Totenspinnen aus dem Schrank und breitete es aus über dem kleinen, runden weißen Tisch. Das weiße Totenkopftuch mit den großen schwarzen Totenköpfen und den weißen Totenspinnen legte sie über ihre Couch. Dann nahm sie aus der Vitrine zwei Weingläser, holte die Brosche und den Ring, Geschenke Apolls, aus dem blauen Kästchen und legte sie behutsam zwischen die langstieligen kristallenen Gläser. Die beiden dazugehörenden Leuchter stellte sie in die Mitte des Tisches. Und alle Leuchter, die sie fand, um sie herum. Mit einem Feuerzeug zündete sie dann die Kerzen an und starrte eine Weile gebannt in das flackernde Licht an den Wänden, deren Farbe die Dämmerung noch nicht geschluckt hatte und an denen die Spinnen und Totenköpfe gespenstisch tanzten. Dann verteilte sie die vielen weißen Lilien, die sie in dem Blumenladen neben einer Apotheke gekauft hatte, in alle vorhandenen Vasen und ordnete sie mit mathematischer Korrektheit um den Totentisch; sie trat einen Schritt zurück, betrachtete zufrieden ihr Werk, stand so eine lange Weile und geriet allmählich in einen Zustand zwischen Traum und Wachen. Wie in Trance wankte sie ins Schlafzimmer, entkleidete sich ganz langsam und betrachtete sich, nackt, wie sie war, von allen Seiten im Spiegel.

"Du bist wunderschön", flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. "Schau dich doch an. Diese tolle Figur, diese glatte leicht getönte Haut, diese großen traurigen hellen Augen, diese langen braunen Locken."

Zärtlich umfasste sie ihre wohl geformten Brüste, die von den Haaren ganz bedeckt waren und lächelte sich zu. Ihre Hände glitten zu ihrem Leib und die unsichtbaren Tränen stiegen ihr wieder in die Augen. Sie öffnete das Wäschefach im Kleiderschrank und nahm die roten Spitzendessous, die Apoll ihr geschenkt hatte, heraus und streifte sie langsam über ihren Körper. Danach rollte sie schwarze Seidenstrümpfe ihre Beine hinauf und schlüpfte dann, jetzt freudig erregt, in ein schwarzes Minikleidchen. Und zufrieden mit sich und ihrem Vorhaben, stellte sie sich wieder vor den großen ovalen Spiegel.

"Du wirst die Schönste sein in dem anderen Leben", sagte sie und lächelte. "Apolls Traumfrau."

Die schwarzen Lackpumps fehlten noch. Und der Wein. Hastig steckte sie sie an ihre Füße und holte den Wein und die Tabletten vom Küchentisch. Sie schüttete sie aus der Packung und bastelte damit Apolls Namen rund um die Kerzen. Sein Passbild, auf dem er so charmant lächelt und auf die Rückseite - Ich liebe Dich - geschrieben hat, ordnete sie neben sein Glas. Dann schob sie die CD Mensch in den Player - blöde Runde - und setzte sich auf ihre Couch. Sie schenkte den Wein in die Gläser, küsste das Foto und sagte:

 

"Prost. Auf unser Wohl. Bis bald."

 

Sie nahm eine Tablette, schob sie, fast genüsslich, in ihren Mund und trank dazu einen Schluck Wein, dann wieder eine Tablette und wieder einen Schluck Wein. Das wiederholte sie so lange, bis sie müde wurde und streckte sich dann, schon sehr benebelt, aus auf ihrer Couch, bedacht, eine gute Figur zu machen, denn sie wollte ja die Schönste sein in dem anderen Leben, Apolls Traumfrau. Und seine Neue musste hier bleiben. Auf der unwirtlichen Erde und Grönemeier hören.

Ja, der Tod ist nur eine andere Form von Leben, dachte sie und verspürte weder Angst noch Panik. Doch dann, als ihr bewusst wurde, dass dies ihr letzter Tag gewesen war, kroch die Angst in ihr hoch. Sie rang nach Luft, wollte schreien, nach dem Telefon greifen, doch sie lag unbeweglich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



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