Der alte Herr Joan

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Der alte Herr Joan

 

 

 

 

 

Liebe Liebe

___________Wie jeden Nachmittag sitzt der alte Herr Joan auf der geräumigen Terrasse vor seinem Landhaus.
Es ist ein schöner Tag heute. Der Himmel blau. Die Sonne sanft. Weit weg die Geräusche der Straße. Manchmal tiriliert ein Vogel in den hohen Kastanienbäumen im Garten.
Joan greift nach der silbernen Zuckerdose. Mathilde, Tildchen, wie er seine Haushälterin zärtlich nennt, hat liebevoll den Tisch gedeckt. Und auch die Kekse nicht vergessen. Wie es schon mal vorkam in letzter Zeit. Na, ja. Sie wird auch nicht jünger.
Joan gibt noch ein Stück Zucker in seinen Tee und stellt die Zuckerdose dann zurück auf das verschnörkelte Tablett.
Verträumt bewegt er den Löffel in dem kostbaren Glas. Immer im Kreis. Immer im Kreis.
Der süßliche Duft des Oleanders im Kübel lässt ihn schläfrig werden. Der Löffel gleitet ihm aus der Hand. Sein Kopf sinkt schwer auf die Glasplatte des runden Tischchens.

*

Mit dem Fernglas blickt er seiner Geliebten entgegen. Ihr rotblondes Haar weht lustig im Wind.
Beschwingt geht sie durch die Wiese voller Blumen. Sie trägt ein Kleid aus gelber Seide und sieht selbst aus wie eine große Sonnenblume.
Rex, sein Hund, läuft ihr entgegen. Und auch er, Joan, geht ein Stück des Wegs auf sie zu.
Als sie ganz nahe voreinander stehen, bittet er sie, kein Wort zu sagen. Lächelnd respektiert sie seinen Wunsch. Er sieht tief in ihre Augen mit den goldenen Splittern und sagt leise: "Ich will nicht, dass dieser Traum so schnell zerfließt. Wie damals, als ich noch ein Knabe war. Du zu mir kamst und ich zum ersten Mal die Sehnsucht nach einem Mädchen verspürte. Wie ein Wunder standest du plötzlich mitten im Zimmer. Und mit dir kam eine Melodie in den Raum, die ich nie zuvor, aber auch nie mehr danach, gehört habe. In all den sternklaren Nächten. Du trugst ein schwarzes Kleid aus Samt. Ich konnte nur deinen Rücken sehen. Dein Haar fiel in Wellen über deine Schultern. Ich fand dich wunderschön. Doch immer, wenn ich dich zu mir drehen wollte, um dein Gesicht zu sehen, löstest du dich auf wie eine Seifenblase. Ich stand allein mitten im Raum. Du warst das Mädchen ohne Gesicht. Ich fing an, dich zu suchen. Ich wusste nicht, wer du bist. Auch deinen Namen kannte ich nicht. So nannte ich dich Liebe. Ich sagte zu dir Liebe, wie man zur Blume Blume sagt. Wie man die Sterne Sterne nennt. Die Sonne Sonne. Liebe. Denn die warst du für mich. Liebe. Meine Liebe. In den sternklaren Nächten suchte ich dich am Himmel. Zwei schönste Sterne machte ich mir aus und setzte sie ein als deine Augen. Mit den anderen zeichnete ich dein Gesicht. So konnte ich dich sehen, wie ich dich sehen wollte. Wenn du dann gelächelt hast, sich um deine Mundwinkel zwei winzige Grübchen bildeten, Spucknäpfchen für Liebesgötter, wie Heinrich Heine schrieb, holte ich den kleinsten, den hellsten, den schönsten Stern vom Himmel, legte ihn hinein und setzte obenauf den Hauch eines Kusses. So warst du bei mir. Ganz nah bei mir. Greifbar nah und dennoch so unendlich weit. Ich erzählte dir von meiner Sehnsucht, meinen Träumen. Und erst die Helligkeit des werdenden Tages verdrängte dich vom Himmel. Ich aber schloss meine Augen und träumte weiter.

"Ich liebe dich, du liebe Liebe."

*

"Haben Sie mich gerufen? Herr Joan?!"

Mathilde stürzt auf die Terrasse. Ihr war, als hätte sie ein Geräusch gehört. So einen dumpfen Aufprall.

"Oh, Gott! Oh, Gott! Ich helfe Ihnen! Herr Joan!" Vorsichtig richtet Mathilde den alten Herrn Joan auf, blickt traurig in seine starren Augen. "Er ist tot", murmelt sie erschreckt, während Tränen über ihre welken Wangen tropfen. "Er ist tot. Oh, Gott. Oh, Gott. Der liebe Herr Joan! Er ist tot. "

 

 

 

 

 



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