Der Maler Wedel

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Der Maler Wedel

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Als ich die Autotür öffne, öffnet Rudi gerade die Galerietür.

"Hallo, Rudi!", rufe ich, "wo willst du denn hin?"
"Ach", sagt er mürrisch, "ich hab die Schnauze schon voll, muss schnell noch mal wohin. Schön, dass du da bist."

Ich kann mir schon denken, wohin er muss. Bier holen natürlich.
Viel los ist nicht, an diesem frühen Abend in Bodos Galerie. Die Leute kommen immer erst so gegen neun Uhr.

Wedels Bilder hängen, stehen, liegen noch überall so herum, wie vor einigen Wochen zur Vernissage, als ich das erste Mal in diesen länglichen, hohen Räumen vor ihnen stand, schockiert und fasziniert. Und noch immer faszinieren sie mich, nehmen mich wieder auf diese extreme Art gefangen, werden lebendig. Mir scheint, als könne ich in die Seelen dieser Konterfeis blicken, als wüsste ich, was sie hinter
dieser grellbunten Fassade verheimlichen wollen.

Ihr könnt mich nicht täuschen, denke ich, ich kenne euch alle, ich durchschaue euch, ihr seid mir so nah.

Auch der Schöpfer dieser Bilder ist mir vertraut. Ausdrucksstark, emotional, extrovertiert, verbirgt er nichts, öffnet sich ohne Scham.
Dieser Mensch hat keine Geheimnisse. Dieser Mensch gibt sich preis. Wie Rudi. Wie ich. Ja, auch wie ich. Gibt sich nicht jeder Künstler preis? Auf diese oder jene Art.

Ja, er muss sich preisgeben. Öffnen. Das wilde Tier herauslassen.

Mit jedem Wort, jedem Pinselstrich, jeder Note, gibt ein Künstler etwas von seinem Ich, seinem Geist, seiner Seele preis. Nur so wird er glaubwürdig. Und jeder Künstler ist rein, besitzt die Seele eines Kindes. Jeder, philosophiere ich, während ich die Bilder der Reihe nach betrachte.

Wedel ist ein Öffentlichkeitsmensch, braucht die Menschen, den Auftritt, das Lob, die Schmeicheleien. Vor allem aber braucht er die Frauen, die ihn umschwärmen.
Und sie umschwärmen ihn tatsächlich, obwohl er nicht besonders gut aussieht. Er ist von kleiner, gedrungener Statur und nicht mehr jung. Seine wilden, dunklen, an den Schläfen leicht ergrauten Locken, umrahmen ein verlebtes Lausbubengesicht, aus dem himmelblaue Augen frisch und unternehmungslustig strahlen.
Wie ein sanfter Triebtäter sieht der aus, dachte ich bei unserer ersten Begegnung, vielleicht hat er was.

Immer mehr vertiefe ich mich in seine Bilder, spüre wieder diese mir unerklärliche Erregung. Nicht, dass sie mir besonders gefallen, diese Bilder. Nein, sie stoßen mich eher ab in ihrer Derbheit, ihrer Aufdringlichkeit, in grellbunte Farben getauchten animalischen Sinnlichkeit.
Diese Porträts, die in Übergröße, alle gleich, und doch jedes verschieden, von den frisch geweißten Wänden lächeln, böse, traurig, gierig, unglücklich, verbittert, drohend.

Was ist es also, das diese Gefühle in mir auslöst. Diesen Zustand des Rausches.
Vielleicht die Augen. Alle ähnlich, wie die Farben, doch auf jedem Gesicht anders verteilt.
In diesem Gesicht leuchtet viel Rot, im nächsten kühlt reines Blau, in dem daneben erblüht wie goldenes Sonnenlicht Gelb und Orange.
Um alle Gesichter erblühen Blümchen, Fische, Vögel, anderes Getier und mystische Fabelwesen. Und über all diesen Bildern scheint eine mystische Aura zu schweben.

Wedel malt den Mantel der Seele, wird mir klar. Das ist es.
Und schon sehe ich unsere erste Begegnung vor meinem inneren Auge:

Die Pressemenschen fotografierten und schrieben fleißig. Als Wedel endlich zu vorgerückter Stunde erschien, locker, burschikos, selbstbewusst, war er sofort von einer Menschentraube umringt.
Ich hielt mich zurück, verzog mich mit einem Glas Sekt in der Hand in eine Ecke, beobachtete ihn.
Als Evelyn sich später mit ihm unterhielt, gesellte ich mich dazu, verwickelte ihn sofort in ein Gespräch.
Meine Vermutung bestätigte sich. Ja, er male in Symbolen, gab er zu und sagte:

"Und ich möchte auch Sie malen, wenn Sie gestatten, natürlich."
"Mich?", druckste ich herum. "Ich weiß nicht…"


Dieser Voeschlag kam wirklich zu überraschend. Damit hatte ich nicht gerechnet.


"Sie haben etwas Unergründliches", lockte Wedel, "ich glaube, es sind die Augen. Ja, es sind die Augen. Sie sind dämonisch. Haben die Männer Angst vor Ihnen?"
"Nicht, dass ich wüsste", lachte ich.
"Ich hätte Angst."
"So?"
"Ja. Doch im positiven Sinn. Frauen, die mich erschrecken, ziehen mich an." Wedels Blick flackerte in meinen Augen. "Sie beflügeln meine Phantasie."

Drei Tage später besuchte ich ihn in seiner Wohnung. Diese Behausung - Wohnung kann ich dazu nicht sagen - übertraf meine vorgewarnten Erwartungen. Rudi hatte mich gewarnt:

"Du kriegst das Ekeln, wenn du diese Wohnung siehst."

Ekeln war noch gelinde ausgedrückt. Wie lange hatte hier keiner sauber gemacht? Abgewaschen. Wäsche gereinigt.


In allen drei Zimmern stapelten sich im schmutzigen Chaos Kleidungsstücke, Geschirr, Farben, Malerutensilien, Andenken, Musikinstrumente; Reste von Essen und sogar eine Klobürste lagen in lieblicher Harmonie im halbdunklen Korridor neben und übereinander.
Alle Türen standen weit offen. Auf dem WC im schmalen Bad fehlte der Deckel, so konnte ich den braunen Urinstein am Beckenrand schimmern sehen.

Wedel schien all das nicht peinlich zu sein; er schien diese makellose Unordnung nicht einmal wahrzunehmen. Es war sein Alltag. Sein Leben. Er malte. Was interessierten ihn diese profanen Dinge des Lebens. Er stand darüber. Sein Geist war erhaben.
Nahm er Drogen, Alkohol. Beides vielleicht?

Ich fand ihn und seine Umgebung abstoßend. Was wollte ich hier.

Wedel dirigierte mich ins Wohnzimmer, forderte mich höflich auf, doch bitte Platz zu nehmen.
Ich flüchtete auf eine freie Ecke des wackligen, zerschlissenen Sofas, dessen samtige Farbe nicht mehr zu identifizieren war.

Freundlich bot Wedel mir ein Glas Wein an. Ich lehnte dankend ab, aus Furcht auf der Stelle Ekelpickel zu bekommen.
So schlürfte er selbst in schnellen Zügen, als wäre er am Verdursten, aus seinem unausgespülten, undurchsichtigen Allzweckglas.

Ich beschäftigte mich währenddessen mit den Bildern, die alle Wände des großen Zimmers bedeckten.
Genau mir gegenüber hing überlebensgroß Rudis Porträt. Ich erkannte es sofort. Das war seine rote Mähne, sein roter Barbarossabart.
Wedel hatte das Kupferrot vermischt mit grünen, gelben, braunen Tönen, diese mit ocker und schwarz, und verteilt in gleichmäßig dicken Strähnen.

Rudis wasserblaue Augen, schräg gestellt wie bei einem Tiger, starrten böse auf mich herab. Seine Lider waren rot, die Brauen tief schwarz, während seine hohe Dichterstirn matt in ockergelb schimmerte. Seine Wangen hatten die gleiche Farbe. Auf dem Nasenbein protzte ein dicker roter Strich über dem kleinen, roten Mund. Dahinter gähnte geheimnisvoll ein schwarzes Loch.
Um den ganzen Rudi wimmelte es von kleinen, gelben Entchen im blauen Teich, umrahmt von blauer und schwarzer, dick aufgetragener Farbe.
Alles in allem ein kraftvolles Bild, von dem Rudi sagen würde:

"Ein Stiermann eben. Erdig, sinnlich, genusssüchtig. Und doch romantisch abhebend."

Ach, Rudi.

Nur mit Mühe löste ich mich von diesem Porträt, betrachtete die anderen übergroßen Bilder.
"Hab' dich nicht so", schienen die Konterfeis sagen zu wollen, "wir alle saßen in diesem Zimmer, wir alle haben überlebt, wir alle sind nun unsterblich durch ihn, Wedel, den großen Meister. Er hat uns verewigt, für immer unseren Geist, unsere Seelen eingefangen, festgehalten in diesen, unseren, einmaligen, Konterfeis."

Inzwischen hatte Wedel ein dickes Album hervorgekramt, setzte sich wie selbstverständlich neben mich auf die zerschlissene Couch, präsentierte mir die Jahrzehnte alten, vergilbten Zeitungen.
Fast auf jeder Seite war er abgebildet und gab zu all den Fotos und Beschreibungen seinen stolzen Kommentar.

Vor vielen Jahren hatte er eine Erfolg versprechende Karriere als Naturwissenschaftler vor sich. Doch dann packte ihn die Abenteuerlust, das Reisefieber; er packte seine sieben Sachen und wurde ein Globetrotter.
Nur mit sich selbst und dem Allernötigsten reiste er rund um die Welt, verdiente mit allen möglichen und unmöglichen Arbeiten seinen Lebensunterhalt, zog weiter, bis er in Afrika eine schöne, blonde Frau kennen lernte.
Ihretwegen wurde er einige Jahre sesshaft, begann zu malen, raubte dieser südlichen, sengenden Sonne die Farben, das Licht, diese grellbunte Sinnlichkeit.

Als die Liebe sich ausgeliebt hatte, zog er von dannen, bis er wieder nach Europa, nach Deutschland kam, im Gepäck die Sonne, die Farben, die Lust und die Kraft zum Malen.

Aufmerksam betrachtete ich die vergilbten Fotos, verstand plötzlich den Maler Wedel, den Mensch Wedel, beneidete ihn um seine Erfahrung.

Er hatte mich in seiner verletzlichen Seele lesen lassen, sich mir geöffnet, obwohl ich nichts von mir preisgab.
Doch ich hörte ihm bereitwillig zu. Plötzlich zauberte er eine alte Gitarre hervor, hockte sich behände zu meinen Füßen, wie ein Liebhaber aus alten Zeiten, Walther von der Vogelweide etwa, auf den schmutzigen Dielenboden und spielte und sang zu meinem Entsetzen seine Schnulzen mit leidenschaftlicher Hingabe.
Wirklich schön, diese Schnulzen.
Sie rührten mich fast zu Tränen, und, wäre ich jünger, so sechzehn, achtzehn, und kein gebranntes Kind, wäre ich ihm und seinen Liedern bestimmt verfallen. Echt. Er hätte mich überzeugen können. So aber rührte er nicht mein Herz. Das Eis, das es umschloss, schmolz nicht.

Wedels Herz aber ist weich, seine Seele empfindsam. Er beichtete mir noch seinen Liebeskummer um ein sechzehnjähriges Mädchen, das ihn schnöde verlassen habe, als es erfuhr, dass er völlig mittellos sei, und hatte wahrhaftig Tränen in seinen hellen Lausbubenaugen.

"Dein Händedruck ist kurz und hart", sagte er beim Abschied. "Du verschließt dich. Du bist ein sehr distanzierter Mensch. Schade."

Drei Tage später zog er mit meiner Freundin die gleiche Show ab.
Ein Glück, dass ich sie vorgewarnt hatte.

"Er malt nur Frauen, mit denen er geschlafen hat", sagt Rudi, der mit einer Flasche Bier hinter mir steht. "Er muss sie kennen, um ihre Seele zu malen."
"Und ihre Seele haben die Frauen im Unterleib", spotte ich.
"Nicht nur die Frauen", lacht Rudi. "Nicht nur die Frauen."




 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 

 

 



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