Der Tag danach

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 Der Tag danach

 

 

 

Der Morgen stürzte in den Tag. Regnete und stürmte. War ohne Erinnerung an die vergangene sternenklare Vollmondnacht.

Crysella befand sich in einem Zustand zwischen Traum und Wachen, taumelte auf zur Decke und flog ohne ein Gefühl für Zeit und Raum wie ein Ballon in den Himmel. Über dem Himmel war noch ein Himmel. Darüber ein weiterer. Wieder einer. Noch einer. Unendlich viele Himmel taten sich ihr auf, trudelten spiralenförmig ineinander, drehten sich um ihre eigene Achse, kreiselten und lösten sich auf in allen Regenbogenfarben. Wieder und wieder.

Sie fühlte sich körperlos. Fast durchsichtig. Glas. Feingeschliffenes Glas, versuchte krampfhaft ihre Gedanken zu ordnen. Bestimmt räumte sie. War vielleicht auf einem Trip.

Allmählich formte sich in ihrem Kopf ein Name. Horus. Ja. Horus. Ihn hatte sie gestern - war es gestern? - kennen gelernt. Vielleicht sogar die Nacht mit ihm verbracht.

Horus. Ihr Kopf signalisierte nur schemenhafte Bilder. Keine klaren Strukturen. Doch allmählich kehrte die Erinnerung zurück:

 

Sie stand auf der Kreuzung Jannowitzbrücke, beugte sich über das schmiedeeiserne Geländer und schaute den vorüberfahrenden Schiffen nach, die in der Abendsonne wie Schwäne dahin glitten auf dem stillen Wasser. Ihre Haare flatterten im Wind und die Menschen winkten ihr fröhlich zu. Ein junger Mann hatte sich neben sie gestellt und winkte auch.

 "Möchten sie gern Dampfer fahren?", sprach er sie an.

 Seine Stimme war sanft und zärtlich, seine Augen voll sprühenden Grüns. Alles Licht des Himmels und der Erde schien sich widerzuspiegeln in der Durchsichtigkeit seiner Iris.

 "Ja", erwiderte sie fasziniert. "Und Sie?"

"Heute geht es nicht", sagte der Fremde. "Aber für einen Spaziergang ist Zeit."

 

Vor dem Kaufhof am Alexanderplatz setzten sie sich in den Biergarten in eine schon etwas dunklere Ecke. Sie trank ein großes Weizenbier. Horus, so hieß ihr neuer Bekannter, hatte keinen Durst. Horus, dachte sie. Komischer Name. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Aha, das war doch der, der mit Seth kämpfte und gewann. Und dann von den Göttern als der rechtmäßige Sohn des Osiris, dem Totengott, anerkannt wurde. Und das, obwohl Seth ihm außereheliche Geburt vorgeworfen hatte. Na, egal.

 "Ich suche eine nur erotische Beziehung", sagte da Horus. "Eine Frau für den Sex. Du verstehst?"

 

Ein prickelndes Gefühl zog durch ihren Körper, als Horus in ihre Augen schaute. Sie presste ihre Schenkel zusammen und schloss die Augen. Nur Sex! Würde er sie jetzt küssen? Als sie die Augen öffnete, war Horus verschwunden. Ein Traum? Sie lief wieder zur Brücke und stieg verwirrt die wenigen Stufen hinunter zum Ufer.

Es war einer jener märchenhaften Spätabendsommertage wie sie im Buche stehen. Luft wie Samt und Seide. Duft wie aus Tausend und einer Nacht. Da können einem die Sinne schon mal einen Streich spielen.

 Überall in den Anlagen glänzten Bäume und Sträucher in der Abendsonne. Wollüstig hatte sie sich über die Erde gelegt. Wie eine überreife Tomate.

Fast unmerklich war es kühler geworden. Und dämmerig. Und der Vollmond zeichnete sich schon durchsichtig ab am purpurnen Himmel. In wenigen Stunden würde er stolz und unabhängig erstrahlen in seiner unvergleichlichen Schönheit.

Alles war seltsam. Licht und leicht. Und ein Strahlen und Glänzen um sie her. Ein Murmeln und Raunen. Flüstern und Säuseln geheimnisvoll in der Luft. Und modrige Süße stieg auf von der Erde wie sommermüdes Parfüm. Alle Hektik war verschwunden. Hatte sich aufgelöst. In Licht. Und Luft.

Wie ein Kind, das zum ersten Mal in seinem kleinen Leben die Natur bewusst genießt, lächelte sie vor sich hin. Zwei Eichhörnchen spielten vergnügt miteinander, wühlten emsig im trockenen Laub nach versteckten Eicheln, setzten sich dann possierlich auf ihre Hinterbeinchen und knabberten an den braunen Früchten.

 Da stand Horus plötzlich wieder vor ihr. Aufgetaucht aus dem Nichts.

 "Ich bin soeben aus Ägypten zurückgekommen", sagte er und breitete seinen langen, schwarzen Mantel aus wie zwei Adlerschwingen. "Muss in zwei Tagen wieder hin. Den Film fertig drehen. Darf ich dich einladen. In meine neue Wohnung?"

 

Die Luft war plötzlich schwer. Schien erfüllt von Stöhnen. Und Lust.

Fast ohne eigenen Willen stieg sie in den amerikanischen Jeep. Horus setzte sich gelassen ans Steuer und sie fuhren in eine düstere Tiefgarage. Dann mit dem Fahrstuhl zu einer Wohnung in einem Hochhaus. Unterwegs begegneten sie keinem Menschen. Es war, als seien sie allein in diesem Riesenhaus mit seinen unzähligen, gleich aussehenden Türen, braun gestrichenen Wänden, dunklen Winkeln, endlos langen Gängen und riesigen Glastüren, die die Gänge unterteilten.

Alles war unheimlich. Gespenstisch.

 "Gruselig ist es hier", sagte sie.

"Aber die Wohnungen sind o.k.", sagte Horus und schloss die Tür auf.

 Einen Moment standen sie unschlüssig in einem kleinen Korridor. Horus grüne Augen funkelten sie an. Unerwartet hüllte er die eine Hälfte seines langen, schwarzen Mantels um ihren Körper und flüsterte:

 "Du kannst es dir im Wohnzimmer gemütlich machen."

"Ja", flüsterte sie zurück und berührte vorsichtig die Stelle an ihrem Hals, an der sie zwei Pieker zu spüren glaubte.

 

Das Wohnzimmer glich einem Büro. Alles schwarz. Die beiden Schreibtische. Die Regale längs der Wände. Die Ledercouch. Die tiefen Sessel. Der runde Tisch. Sogar Fernseher und Computer.

Sie warf ihren kurzen Mantel über einen schwarzen Stuhl, die roten Pumps auf den Teppichboden, der grau war mit schwarzen Sternen, und versank in einem der tiefen, schwarzen Sessel.

 Horus kam ins Zimmer. Im weißen Hemd und schwarzer Lederhose. Der Fledermausmantel hing lässig auf seinen Schultern und seine langen schwarzen Haare wippten herausfordernd bei jedem Schritt.

 "Jetzt kommen wir zum gemütlichen Teil", sagte er und stellte ein Tablett mit zwei gefüllten Gläsern auf den Tisch. "Auf diese Nacht."

 Schon nach den ersten Schlucken Rotwein wurde ihr schwindlig. Kichernd zog sie ihre Knie zum Kinn, der Mini rutschte höher, sie noch tiefer in den Sessel. Wie schamlos, dachte sie und lachte.   

An der gegenüberliegenden Wand saß eine Fellinifrau mit übergroßen Brüsten, die schwer auf ihren runden Knien lagen.

"Mein Lieblingsfoto", sagte Horus, der ihrem Blick gefolgt war, während er eine CD einlegte und sogleich Schmusemusik den ganzen Raum erfüllte. Er zündete die vielen Kerzen an, die überall herumstanden und kniete dann vor ihr nieder. Ihre Knie öffneten sich, wie die Flügel eines Schmetterlings. Horus Hände streichelten Erfahrung. Sie krallte sich fest in seinen langen, seidigen Haaren und stöhnte leise, die Augen starr zur Decke. Die Decke war ein Spiegel, brach jetzt auf wie die Scholle beim Pflügen. Eine Urhöhle, die sich weitete und weitete, zusammenpresste, ausbreitete, pulsierte, schloss. Immer wieder. Im gleichmäßigen Rhythmus.

Alles um sie herum begann sich zu drehen. Die Wände waren plötzlich pochendes, schwellendes, vaginales Material, geschmückt mit Hunderten von Brüsten. Klebrige Flüssigkeit tropfte von ihnen, formte sich zu immer bizarreren Gebilden, die, kaum, dass sie Ausdruck angenommen hatten, zerflossen und erstarrten, sich neu formten, um gleich darauf wieder zu zerfließen in unendliche Unendlichkeit. Wieder und wieder. Ein nicht fassbares Chaos.

Wie in Trance knöpfte sie Horus weißes Büßerhemd auf und koste seine glatte, seltsam weiße Brust.

 "Du bist schon eine tolle Frau", sagte er und biss ihr in den Hals. "Wenn ich bedenke, wie du vor zehn Jahren warst."

"Wie denn?", flüsterte sie und wunderte sich über die Süße in ihrem Blut.

"Ein Kind. Ein unschuldiges. Mit Augen, in denen der Teufel steckte."    

 Die wieder aufgebrochene Zimmerdecke spiegelte ihr verschlungenes Bild. Das Paar im Spiegel wand sich in wollüstigen Posen. Sie verspürte eine angenehme Schwerelosigkeit und schwebte mit Horus in einen dunklen Himmel.

Doch allmählich erschlaffte ihr Körper, ihre Kräfte wichen. Horus lag noch immer über ihr. Sie starrte erschreckt in sein weißes, blutverschmiertes Gesicht.

 "Du bist nun unsterblich", sagte er. "Meine Gemahlin, meine geliebte, meine Fürstin der Finsternis."

"Nein!", schrie sie entsetzt.

 Verführerisch glänzten ihre langen Eckzähne im Spiegel der Decke. "Es ist ein Spiel! Ein irres, ein total verrücktes Spiel. Ein Vollmondfrauspiel!"

 Wütend hackte sie ihre schönen, weißen, glänzenden, langen Zähne in Horus schlanken, weißen Hals. Spürte sein Blut, das das ihre war, auf ihren Lippen, in ihrem Mund und Kraft pumpte pulsierend durch ihren Körper.

 Horus verfiel mehr und mehr. Sein Gesicht glich einem Leichentuch. Er war nicht mehr fähig, sich zu bewegen. Sie hatten die Rollen vertauscht. Sie saß auf ihm und kicherte schadenfroh:

 "Ich habe gelesen, dass die Männer in ihrer Agonie mehrere Orgasmen kriegen sollen. Viel Spaß."

 Sie küsste seinen immer blasser werdenden Mund und saugte die letzten Blutstropfen aus seinem Hals.   

 Ein Mondstrahl fiel ins Zimmer. Horus lächelte erleichtert. Mit wieder gewonnener Kraft stieß er sie beiseite, erhob sich schwankend, eilte zum offenen Fenster.

 "Das Licht des Vollmonds erweckt die Toten!", rief er und stürzte sich in die Tiefe.             

 Erschreckt lief sie zum Fenster. Weit unten lag die Neonstadt, leuchtete grell mit ihren Geschäften, Reklamen, Vergnügungshäusern, und nächtlicher Geruch verderbten Flairs erfüllte die Luft.

Sie beugte sich weit über die Brüstung. Horus lag unbeweglich auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet. Ein Mondstrahl lag wie verirrt auf seiner Brust, kroch langsam höher, erreichte sein Gesicht, das überirdisch schön im gleißenden Licht des Vollmonds leuchtete. Plötzlich erhob er sich schwankend und hastete davon.

 

Entsetzt rannte sie aus der Wohnung, lief die langen Gänge entlang, die unzähligen Treppen hinunter. Ein Taxi fuhr sie nach Hause.

 

Aus ihrer jetzigen Sicht betrachtet, war Crysella ganz sicher: Horus hat ihr eine Droge in den Wein getan. Oder sie ist verrückt. Oder alles ist ein Traum. Ein schrecklicher Alptraum, aus dem sie sofort erwachen musste. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett, lief ins Bad und blickte entsetzt in den Spiegel. Eine fremde Frau starrte ihr entgegen. Das Gesicht weiß. Die Lippen blass. Und dazwischen glänzten zwei Reihen wunderschöner langer, weißer, spitzer Zähne.

 

 

 

 

 

                                                                 

 

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



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