Die roten Dessous und der junge Stier

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Der junge Stier und die roten Dessous

 

 

 

 

 

"Wunderschön siehst du darin aus." Verdammter Verräter. "Und so sexy." Dabei hatte er mich geküsst.
Wütend nehme ich die roten Spitzendessous aus dem Kästchen und knülle das seidige Nichts von einem Hemdchen und Höschen in meinen Händen. Soll er sie doch seiner Neuen schenken. Dieser, dieser Wasserstoffblonden. Diesem Blöndchen. Ich brauche sie nicht mehr. Will sie nicht mehr. Wie Feuer brennen sie in meinen Händen. Wie Feuer des Verrats. Wie Feuer der Scham. Weg damit.
Schnell werfe ich die Dessous auf den Teppich, versinke in meinem Sessel und träume mit offenen Augen.

Die Sonne steht noch niedrig am wolkenlosen Himmel, überstrahlt rot die Bergketten und golden die Wiesen, auf denen die Kühe schon munter grasen. Ich schlendere zu der Bank, von der aus man einen wunderschönen Ausblick auf das Tal hat, den steinigen Fluss, die Berghänge, die herb duftenden Wiesen und sogar ein wenig Dorf.
Ich fühle sich so wohl in den roten Spitzendessous, die ich wegen der Hitze als einziges Kleidungsstück trage. Ein Geschenk meines Geliebten. Wohlig vermitteln sie mir die Illusion seiner Nähe und Wärme.
Um mich nahtlos zu bräunen, entledige ich mich des seidigen Nichts und lege mich entspannt auf meine Lieblingsbank auf einer Lichtung vor einer in Fels gehauenen Indianergruft.
Insekten schwirren, summen, brummen um mich herum. Seltsame Käfer, die immer wieder einen hohen Sirenenton ausstoßen, tanzen lustig auf meinen langen, braunen Haaren.
Gelbe Schmetterlinge sitzen auf den Blüten der Gräser, die sich sanft im lauen Wind bewegen. Papageien fressen kreischend die überreifen Früchte von den nahen Brombeerbüschen entlang der felsigen Hänge.
Alles ist so wunderbar. So friedlich. Ich schließe meine Augen und versinke in einem überaus wohligen Gefühl des absoluten Glücklichseins.
Plötzlich spüre ich etwas Dunkles über mir. Ich öffne meine Augen und schaue erschrocken in den wolkenlosen, blauen Himmel. Ein Schwarm großer, schwarzer Vögel, so fünf oder sieben, kreist einige Meter über mir. Bestimmt Aasgeier. Oh, verdammt. Schnell greife ich nach den roten Dessous. Da verschwinden die schwarzen Vögel. Aha. Ich bin nicht das richtige Futter.
Erleichtert lege ich mich wieder auf die Bank. Doch, oh, Schreck, die Vögel kommen zurück. Ziehen erneut ihre Kreise.
Die denken bestimmt, da liegt rohes Fleisch und wollen den Augenblick, da dieses unbeweglich liegen bleibt, abwarten, um sich dann mit Geschrei auf es zu stürzen. Auf mich! Das vermeintliche Aas. Nur weg hier.
Hastig ziehe ich mich an und schaue erleichtert den Vögeln nach, die höher und höher kreisen, weit in den blauen Himmel hinein und endlich meinen Blicken ganz entschwinden.

Etwas abgehetzt gelange ich zu den Zelten auf der romantischen Bergwiese. Doch von den Anderen fehlt jede Spur. Bestimmt baden sie im nahen Fluss.
So laufe ich weiter über die hügeligen Wiesen. Plötzlich, in einer Talsenke, steht ein Stier vor mir. Sein schwarzes Fell glänzt seidig in der prallen Mittagssonne. Seine Augen glotzen mich dunkel an. Herausfordernd senkt er seine mächtigen Hörner, bereit zum Kampf.
Wo kommt der Stier so unvermutet her? Hat er sich verlaufen? Er sieht ganz schön bedrohlich aus. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter.
Gleich wird er mich aufspießen…
Panisch renne ich davon. Als ich mich zaghaft umwende, ist der Stier verschwunden. Beruhigt wandere ich weiter. Doch mein Herz wummert noch ganz schön an die Rippen.
Hügel rauf, Hügel hinab, Hügel rauf, Hügel hinab geht es. Der Himmel ist niedrig. Die Sonne brennt. Das dürftige Gras wir heiß unter meinen nackten Füßen. Macht nichts. Hauptsache der Stier ist weg.
In einer Talsohle will ich mich ausruhen. Nur einen Augenblick vor mich hin träumen.
Da steht er wieder vor mir. Wo kommt er nur her? Er steht und glotzt mich an. Als sei ich ein Weltwunder. Bin ich vielleicht auch für ihn. Schnell laufe ich weiter. Der Stier verschwindet. Doch in der nächsten Talsohle steht er wieder und starrt mich erwartungsvoll an.
Es sind die roten Dessous, die den Stier anlocken, kommt mir ein rettender Gedanke. Ja, Rot macht die Stiere verrückt. Das weiß doch jedes Kind.
Schnell ziehe ich die Dinger aus, knülle sie in meine Hand und laufe weiter über die Wiesen, die stabile Maschendrahtzäune von den Bergen und Schluchten trennen, und fühle mich wie sich Eva und Adam im Paradies gefühlt haben mussten.
Würzig weht die Luft von den nahen Bergen. Es wird etwas kühler. Ich ziehe die Dessous wieder an und gelange in eine Talsohle. Und da steht der Stier, als hätte er auf mich gewartet.
"Da bist du ja wieder. Mein Schöner", sage ich und knülle die Dessous in meine Hand.
Wie zwei Kampfhähne stehen wir uns gegenüber. Drohend senkt der Stier seine Hörner und glotzt mich weiter ausdruckslos an.
"Verschwinde! Verschwinde endlich! Du verdammtes Biest!" schreie ich, einer Eingebung folgend. "Hau endlich ab! Lass mich in Ruhe!"
"Muuuuhhuhuu!"
Einen Augenblick bin ich wie erstarrt. Doch dann brülle ich mutig zurück: "Mmuuuhuuuuuuh!"
Vor Schreck schließt der Stier sein weit offen stehendes Maul. Doch nur einen Augenblick, dann brüllt er wieder los: "Muuuuuhuuuuuuuh!!"
Es hört sich an, als würde er sein brünstiges Weh in die Welt brüllen. "Muuuhhuuuuuuh!!" brülle ich mein verzweifeltes in sein offenes Maul. Er verstummt sofort. Diesen Augenblick nutze ich und renne um mein Leben, ohne mich umzudrehen.
Als ich es doch wage, sehe ich den wunderschönen, schwarzen Stier mit dem seidig glänzenden Fell noch am selben Fleck stehen. Sein "Mmuuuuhhuuuhh" hallt grausig als Echo von den Bergen.

Atemlos komme ich bei den Zelten an und plumpse völlig erschöpft ins herb duftende Gras.
"Bist du etwa nackt da oben lang gelaufen?" Andi schüttelt sich vor Lachen.
"Ja", sage ich. "So ein blöder Stier ist mir nachgelaufen, weil ich die roten Sachen anhabe. Und da musste ich sie immer wieder ausziehen. Wie bei den Aasgeiern."
"Wir haben dich durch das Fernrohr beobachtet." Brit hält das Fernrohr demonstrativ in die Höhe. "Und das Brüllen haben wir auch gehört. Und die Aasgeier gesehen." Alle lachen. Nur ich nicht.
"Ich war in Lebensgefahr", sage ich empört. "Und ihr macht euch einen Spaß daraus! Nie wieder ziehe ich Rot an! In dieser Einöde."
"Stiere können doch nur schwarzweiß unterscheiden", klärt mein Geliebter mich auf. Dieser Besserwisser. "Es war das Wedeln, das ihn angezogen hat. Und auch die schwarzen Vögel. Was treibst du dich auch immer alleine herum?"

Ja. In Argentinien ist jetzt Sommer. Es war meine schönste Urlaubsreise. Diese Reise mit ihm. Meinem ehemals so Geliebten. Und das Erlebnis mit dem schönen Stier und den schwarzen Vögeln. Diesen Aasgeiern.
Hier ist der Winter eingezogen. Mit Glätte, Eis und Schnee. Und einem kalten Wind.
Frühzeitig hatte alles darauf hingedeutet. Schon im Sommer war das Laub von den Bäumen gefallen.
Das hatte sogar ich bemerkt. Ich.In meiner Seelennot.
Blicklos starre ich vor mich hin.
Warum hat er mich verlassen. Einfach so. Ohne ersichtlichen Grund.
Dieses Geheimnis werde ich wohl mit ins Grab nehmen müssen.

Entschlossen werfe ich die roten Spitzendessous in eine Tüte und verlasse das Haus. Mein Ziel ist die Arbeitsstätte meine ehemals so Geliebten. Vor der Tür steht sein Auto. Ich hänge Hemdchen und Slip an die Antenne, im Herzen ein Gefühl unendlicher Wehmut, aber auch Befreiung.
Die verschmähten Dessous wehen einsam im Winterwind. Verursachen ein leise quietschendes Geräusch, wenn sich der leichte Spitzenstoff an dem blanken Metall der Antenne reibt. Es hört sich an wie ein unterdrücktes Seufzen.
Fröstelnd eile ich davon. Der Himmel ist düster und verhangen. Nur manchmal wirbeln winzige Eisflocken durch die Luft.

Doch ich bin frei. Frei!

 

 

 



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