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Erste Liebe

 

 

 

 „Er ist wirklich ein verarmter Graf“, flüsterte Anneliese, während wir die vier Treppen des alten Miethauses im Hinterhof hinauf stiegen, „seine reichen Eltern haben ihn verstoßen, weil er sich den schönen Künsten verschrieben hat. Und sogar einen Namen beim Film hat er sich gemacht."
"Tatsächlich?"
"Ja. Er hat nämlich die Kulissen für "Die unendliche Geschichte" gemalt.“
„Oh, wirklich?“
„Ja. Echt. Und jetzt lebt er mit seiner Freundin Margaretha hier im dritten Hinterhof kärglich vom Sozialamt.“
„Na, schön.“ Uschi zwinkerte mir zu. „Das kann ja heiter werden.“
Margaretha wartete schon vor der Wohnungstür. Ein rotes Stirnband mit einer gelben Blume in der Mitte hielt ihre blonden Haare in Form. Kornblumenblaue Augen, die ihre Kindlichkeit bewahrt zu haben schienen, sahen uns traurig an.
„Hereinspaziert“, sagte sie freundlich. „Legt doch ab.“ Sie schmatzte jeder von uns drei Küsschen auf die Wangen und zeigte dann auf eine alte Truhe, über der ein fast blinder Spiegel hing.

Es war Sommer. Und die Nächte lang und warm. Wir hatten nichts zum Ablegen. Es sei denn, unsere fast durchsichtigen, bunten Sommerkleidchen im Stil der Sechziger Jahre.
„Das kann ja heiter werden“, äffte ich Uschi nach. Ich hatte gerade den Hausherrn Carlos erblickt. Den Maler und verarmten Grafen. Du meine Güte.
„Herzlich willkommen auf der Party“. Carlos hatte eine angenehm dunkle Stimme. Richtig erotisch, stellte ich mit einem Kribbeln im Bauch fest. „Der Sechziger“, setzte er verschmitzt hinzu.
In seinen blaurot karierten Pantoffeln, auf denen eine rosa Bommel saß, schlurfte er in etwas gebückter Haltung vor uns her, den langen Korridor entlang.
„Selbst gemalt.“ Stolz zeigte er auf die bunt dekorierten Wände. „Ich brauche nie zu tapezieren.“
„Ein wirklich attraktiver Mann“, dachte ich, während ich die ungerahmten Bilder an den Wänden betrachtete. „Graumelierte Schläfen, dunkle Locken, leidenschaftliche, braune Augen. Ein verarmter Graf also. Interessant. Wie im Märchen. Wirklich eine Sünde wert.“
„Hat das gedauert.“ Oh, je, Anneliese riss mich gnadenlos aus meinen sexistischen Gedanken. „Ehe wir einen Parkplatz gefunden haben. Und die Straßen wieder voll! Überall Stau. Na ja, aber jetzt sind wir hier. Und eine Flasche Wein haben wir auch mitgebracht. Und, das Wichtigste, etwas zu rauchen.“ Keck verpasste sie Carlos einen kleinen Stups in meine Richtung, so dass wir uns für den Bruchteil einer Sekunde gegenüberstanden und Blick in Blick versanken.
Carlos riss sich als Erster los.
Das Wohnzimmer war dunkelschummrig und voller Menschen. Etwas zog an meinem geblümten Kleid. „Hier ist noch Platz.“
Ehe ich es mich versah, saß ich auf einem wackeligen Stuhl vor einem großen, ovalen Tisch. Braunes Holz schimmerte matt zwischen Flaschen, Gläsern, Naschereien, Zigaretten, Tabak, vollen Aschenbechern, Feuerzeugen, Leuchtern mit brennenden Kerzen, einer Unmenge loser Zettel und anderem Krimskrams.
Carlos saß plötzlich auf dem Stuhl neben mir. Gelassen drehte er sich eine Zigarette, nahm dann einen tiefen Zug.
„Willst du auch?“
„Klar.“ Mutig zog ich an der Selbstgedrehten. Und hustete. Klar. War ja meine Erste.
„Eine Unschuldige.“ Der Kerl auf dem Stuhl neben mir lachte. Die anderen fielen ein.
„Wie das eben so ist.“ Übermütig warf sich Anneliese auf die Couch zwischen die anderen Gäste, legte herausfordernd ihre langen Beine übereinander, schüttelte ihre blonde Mähne. Der weitschwingende Mini rutschte noch höher, so dass das Schleifchenstrumpfband an ihren langen Beinen sichtbar wurde. Mit einer Hand fegte sie einige Utensilien beiseite, stellte die Flasche Wein auf den Tisch, die Zigaretten daneben.
Die Luft war dick, stickig. Die Gespräche laut. Die Musik noch lauter.
Uschi streckte ihre nackten Arme aus. „Na, noch ein Plätzchen für mich?“ Sie zwängte sich zwischen Anneliese und einen Typen mit Jesuslatschen und buntem Halstuch. „Wer hat was für mich?“
Der Typ steckte ihr seinen Stummel in den Mund. „Iss echt gutt, das Zeugs.“

Margaretha ging in die Küche und kam sofort wieder zurück mit drei Gläsern und etwas Knabberzeug auf einem silbernen Tablett, das sie auf den so schon übervollen Tisch stellte.
Anneliese öffnete geschickt die Flasche Wein mit einem Taschenmesser, das sie aus ihrem Handtäschchen gekramt hatte, und goss unsere Gläser voll.
„Auf uns und euch und alle.“

In der Mitte des Zimmers stand ein großes Bett. Darauf schlief zusammengerollt eine graue Katze.
„Sie liegt da und rührt sich nicht“, bemerkte ich dümmlich.
„Sie ist schon achtzehn Jahre alt.“ Margaretha graulte das Fell der alten Katze.
„Im Allgemeinen werden Katzen doch wohl nicht so alt?“ Vorsichtig löste ich mich von Carlos, der sich eng an mich gedrückt und eine Hand unter mein dünnes Kleid geschoben hatte.
„Die ja.“ Margaretha warf Carlos schnell einen warnenden Blick zu.
„Oh, bist du süß“, schnurrte ich. „Komm doch mal her, du kleines Katzending.“
Ich setzte mich neben Margaretha auf das breite Bett, kraulte vorsichtig das weiche, graue Fell der Katze. Doch diese erwiderte meine Zärtlichkeit nicht. Nein, das Biest fauchte wie wild, fuhr die langen, spitzen Krallen aus, riss ihr gelbes Katzenmäulchen auf, zeigte mir ihr altes, gelbes, stinkendes Gebiss. Vor Schreck zog ich mich sofort zurück. Da beruhigte sich das seltsame Ding, zog die Krallen wieder ein, rollte sich zusammen und schnurrte zufrieden. Ich legte mich neben sie und driftete etwas ab. Allmählich war mir, als würde ich schweben. Dann muss ich wohl eingeschlafen sein.

„Komm mit.“ Carlos stand plötzlich neben mir, steckte meine Plateauschuhe an meine Füße, zog mich vom Bett. Die Katze war verschwunden. Margaretha auch. Aus der Musikbox schallte noch immer rockig die Musik aus den Sechzigern. Ich glaube, es war Shakin’All Over oder Save The Last Dance For Me oder so ähnlich. Jedenfalls war es so tolle Rock’N’Roll Musik und all die Leute, die ich nicht kannte, rockten wie wild durch das Zimmer, den Korridor und Carlos Arbeitszimmer. Mehr Räume gab es nicht.
Dichter Qualm stieg wie eine Fontäne zur hohen Zimmerdecke, kräuselte sich zusammen, sank herab, breitete sich aus wie ein riesiger, buntschillernder Fächer.
Benommen rockte ich mit Carlos auf meinem Stuhl,legte meinen Kopf auf seine Schulter.
„Ich habe eine Idee“, hauchte ich nah an seinem Ohr.
„Sprich! Du weiseste aller femininen Geschöpfe.“ Er reichte mir die Neugedrehte. Ich sog daran. Inhalierte. Hustete diesmal nicht. Gab den Joint weiter.
„Ich möchte es mit dir.“
„Was möchtest du mit mir?“
„Sex.“ Ich lachte. „Was denn sonst.“
Verblüfft starrte Carlos mich an. „Einfach so?“
„Ja. Ich habe unbändige Lust. Du sollst es sein.“
Carlos zog mich stürmisch an sich. Feuer blitzte in seinen schönen Augen. „Später“, sagte er. „Warte noch.“
„Mit der Liebe und den Männern habt ihr wohl schon so einiges durch“, sagte der Typ neben Uschi, die gerade einen Zug nahm.
„Nicht so neugierig, Alter.“
„Na, sag schon. Was ist los mit der Liebe und den Männern?“ Der Typ nahm Uschi den Stummel aus dem Mund. „Warum klappt nichts mehr?“
„Die Zeichen der Zeit“, mischte sich Anneliese ein. „Was meinst du?“
Sie meinte mich. „Ein Symbol des Verfalls der Familie“, sagte ich altklug. „Der kleinsten Zelle der Gesellschaft. Man könnte stundenlang darüber philosophieren.“
„Ala Karl Marx“, sagte ein junger Mann mit langen, zottigen Haaren und runder Intelligenzbrille spöttisch.
„Es gibt keine echten zwischenmenschlichen Bindungen mehr.“ Uschi stand auf. „Was meint ihr?“
„Wenn ich zum Beispiel einen Blick in meinen Bekanntenkreis werfe, kann ich dir nur zustimmen“, sagte der Karlmarxer, „überall Zerrüttung. Zerrüttung. Frust. Enttäuschung.“
„Die Frauen sind schuld“, spöttelte Carlos. „Sie lassen sich nicht mehr alles gefallen. Sie werden immer selbstbewusster. Egoistischer. Habe ich Recht, Otto?“ Er starrte in meine Augen.
Otto, der Karlmarxer, sprang von seinem Stuhl, schüttelte seine fettigen Haare auf den Tisch, knöpfte sein buntes Hemd auf, schrie: „Hoch lebe der unbändige Drang nach Freiheit. Nach Unabhängigkeit. Nach Befreiung! Hoch lebe die emanzipierte Frau!“
„Aber damit könnt ihr Machos doch nicht umgehen.“ Ich schmiegte mich noch näher an Carlos. „Euch fehlt einfach der Durchblick.“ Ich kicherte albern.
„Weg mit dem Patriarchat!“ Anneliese zog Otto zu sich. „Diesem männlichen Chauvinismus. Richten doch alle nur Unheil an. Ich könnte mir eine Gesellschaft ohne männliche Domäne gut vorstellen.“ Sie küsste Otto auf seinen erstaunten Mund.
„Ich habe gelesen“, stammelte er. „Das männliche Hirn habe zwei Windungen mehr als das weibliche.“ Er küsste Anneliese auf den Mund.
„Die Dummheit und die Feigheit“, hatte ich einen Geistesblitz.
„Anwesende natürlich ausgeschlossen“, sagte Margaretha, die gerade mit einem großen Topf Nudeln aus der Küche kam und sie nun mit einem großen Schöpflöffel in die auf dem Tisch gestapelten Teller verteilte. „Hier, damit ihr wieder zu euch kommt. „Wer möchte Nudeln?!“
„Auf den Grund der Dinge gelangt man sowieso nie“, philosophierte Otto und hatte plötzlich eine Kamera in der Hand.
„Der Mann ist feige“. Anneliese langte in den Nudeltopf. „Er lügt.“
„Seine Seele ist verloren“. Ich langte auch in den Nudeltopf. „Seine Küsse sind Judasküsse. Er muss durch die Dunkelheit der Sünde gehen. Durch die Hölle der Schmerzen, um die Liebe zu verstehen. Um geläutert zu werden.“
„Oh, oh“. Carlos Hand streichelte meine Beine. „Woher kommt denn diese Weisheit aus so einem hübschen Köpfchen?“
„Habe ich gelesen. Oder aus einem Film. Weiß nicht mehr.“ Ich drückte meine Knie zusammen. Mir wurde immer heißer. So wie Carlos Blicke.
„Du bist doch beschwipst“, sagte Otto zu Anneliese. „Dich kann man nicht mehr ernst nehmen. Im Normalzustand hätte ich dir die Freundschaft gekündigt.“
„Ich bin nie normal.“ Anneliese küsste Otto wieder. „Oder findest du das normal?“
„Ich will nach Hause“, sagte ich. „Mir ist schlecht.“ Das war natürlich eine Ausrede. Ich wollte Carlos Reaktion testen.
„Die Party fängt doch gerade erst an“, sagte er wie erwartet und zog mich vom Stuhl. „Komm. Ich zeig dir was.“
Schnell drängte er mich in sein Arbeitszimmer. Es war klein und länglich und vollgestopft mit allerlei Krimskram und seinen Malerutensilien.
Eine zweite Tür führte auf den Balkon, der fast vollständig überrankt wurde von einer üppig blühenden Pflanze, an deren rosaweißen Blüten ich gierig schnupperte.
„Das ist Hasch. Indisch Gold. Es gedeiht hier wunderbar.“
„Ich habe keine Ahnung von Drogen.“
„Da hast du ganz schön was versäumt.“ Carlos zog mich ganz nah an sich heran und küsste mich wie wild. Dann stupste er mein Gesicht tief in die duftenden Blüten, während seine Hand von hinten unter mein Kleid fuhr.
„Gibst du mir einige Samen, wenn sie reif sind?“, fragte ich benommen. „Mein Opa hat Tabak selbst angebaut. Mann, hat das immer geduftet, wenn er seine Pfeife damit stopfte. Und er ist sechsundneunzig Jahre alt geworden.“
„Klar, kannst du haben. Wir werden uns ja wohl noch öfter treffen?“ Seine Hände schoben mein Kleid bis zu den Oberschenkeln, fuhren in meinen Slip. Mir wurde schwindelig. Ein unsägliches Glücksgefühl erfasste meinen Körper, öffnete alle Poren, füllte sie mit Blut, machte mich bereit, bereit für das erste Mal; willig drängte ich mein Hinterteil Carlos erfahrenen Händen entgegen. Und plötzlich war da ein Bild:

Große, braune Blätter auf kräftigen Stängeln tanzten im Wind. Würziger Geruch hing in der Luft. Umnebelte meine Sinne. Ich schmeckte das süßbittere Aroma der frischgezupften Blattspitzen. Honiggelb wiegte sich hinter einem riesigen Tabaksfeld der reife Weizen gleich einem unüberschaubaren Meer im gleichmäßigen Rhythmus. Und darüber hing ganz tief ein unnatürlich blauer Himmel.
Auf meiner Haut den warmen Sommertag, träumte ich über einer anmutigen Landschaft, schaute den braunweiß gescheckten Kühen zu. Ihren prallen Eutern, die unter den hochgestellten Schwänzen hin und her baumelten. Und dicke, qualmende Fladen plumpsten in üppig wucherndes Gras.
Dann ging die Sonne unter. Sterne erhellten die Nacht. Großvater saß auf der Bank vor dem Haus. Rauchte genüsslich seine Pfeife. Bläuliche Wölkchen schwebten in den Himmel. Bizarre Gestalten aus Grimmschen Märchen trudelten vor mir her. Wurden lebendig. Ich war die Prinzessin. Die Großmutter. Der Wolf. König. Bettler. Mit einem Aufschrei fiel ich in den Brunnen. Schüttelte die Betten aus. Meine kleine Hand ruhte sicher in Großvaters großer. Und die Kraft, die von der Wärme dieser harten Arbeitshand ausging, drang in meinen Körper. In meine Kinderseele.
„Au“, stöhnte ich, verspürte plötzlich Schmerz, wo eben noch ungezügelte Lust war. „Au. Du tust mir weh.“
„Sag nur, das ist das erste Mal.“ Carlos ließ von mir. Holte mich zurück in die Wirklichkeit.
„Ja“, hauchte ich, “ist das schlimm?“
„Schlimm nicht“, sagte Carlos mit veränderter Stimme. „Aber du bist doch schon neunzehn. Und, du hättest es mir sagen müssen. Ich will nicht die Verantwortung übernehmen.“
„Ich will es aber.“ Ich war den Tränen nahe, hatte den Schmerz schon vergessen, sehnte mich nach Carlos zärtlichen Berührungen, versuchte, ihn zu küssen. Doch er stieß mich sanft von sich. „Runter von Wolke sieben“, sagte er. „Gehen wir wieder zu den Anderen.“
Enttäuscht trottete ich hinter ihm her. Zu gern hätte ich ihm doch mein erstes Mal geschenkt. Er schien es mir wert zu sein. So wunderschön, wie er war. Mit dieser ganz besonderen Ausstrahlung, die mich sofort in seinen Bann gezogen hatte. Und nun war nichts. Er machte einen Rückzieher. Stieß mich von sich. Mich, die ich an jedem Finger zehn Männer haben könnte. Feigling. Wer weiß, wann und ob ich je wieder so einem Mann begegnen würde. Etwas deprimiert wischte ich mir zwei Tränen aus den Augenwinkeln. Die Party war ja noch nicht zu Ende.

Im Wohnzimmer kramte Carlos alte Fotoalben mit goldverschnörkelten Ledereinbänden aus der Schublade eines antiken Schrankes. Vorsichtig legte er sie auf den Tisch zwischen all die anderen Dinge und schlug die Seiten auf.
„Ihr könnt die Fotos ansehen“, sagte er und blickte auffordernd in die Runde. „ Hier drin steckt mein Leben. Mein Leben vor dem Leben.“
„Alter russischer Adel. Deine Eltern sind doch steinreich“. Uschis Blicke ruhten gebannt auf der gräflichen Umgebung. „Alles steif. Alles unpersönlich. Alles kalt.“
„Geblieben ist der Haremsstuhl.“ Ich suchte Carlos Blick. Seine wunderschönen, braunen Augen.
„Und der verlorene Sohn.“ Carlos sehnsüchtiger Blick versank in meinem. „Ich.“
„Wirst du auch mit offenen Armen empfangen? Wenn du nach Hause kommst? Wie der verlorene Sohn in der Bibel? Wird dir auch ein Fest bereitet werden?“
Carlos lachte traurig. Bitterkeit um seinen hübschen Mund.
„Auf den Fotos siehst du wirklich wie ein Graf aus.“ Otto schwenkte die Kamera über den Tisch. „Und so verloren. Seht doch mal, wie er dasitzt. Steif. Gestriegelt. Gebügelt.“
„Allein“, flüsterte ich. „So allein.“
„Meine Mutter ist eine strenge und schöne blonde Frau“, sagte Carlos. „Und mein Vater ein schöner und strenger, nun schon alter, Mann. Er will mich sehen.“
„Wirst du fahren?“ Meine Stimme zitterte etwas. „Dich mit ihm aussöhnen?“
„Würde ich gern. Ja. Aber Margaretha will nicht. Sie könne nicht heucheln, sagt sie.“
„Das kann ich gut verstehen.“ Ach, ja. Margaretha. Die hatte ich ganz vergessen. Ich stand auf und betrachtete die im südländischen Stil bemalten Wände. „Herrliche Palmen habt ihr hier“, sagte ich. „Meer. Weißen Strand. Immer Urlaub.“

Carlos stand ebenfalls auf und verstaute die Alben wieder im Schrank. Dann verschwand er. Die Party ging weiter.
Save The Last Dance For Me.
Ich saß auf meinem Stuhl und dachte an Carlos. Und mein Unglück. Und hatte heftiges Mitleid mit mir selbst.
„Du sollst mich doch nicht heiraten“, flüsterte ich vor mich hin. „Du sollst doch nur der Erste sein.“
Da war er wieder neben mir. „Komm.“ Er zog mich auf die Couch, die jetzt leer war. Die Gäste waren wahrscheinlich in der Küche. Hatten bestimmt Hunger. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie gegangen sind.
Carlos öffnete seine Hand. Ein kleines, grünes Kügelchen lag darin. „Das ist Hasch“, sagte er, „pures Hasch. Indisch Gold. Ganz frisch. Das musst du kosten. Ist köstlich. Extra für dich.“
Provokant hielt er mir die Köstlichkeit unter die Nase. Gierig berauschte ich mit an dem verführerischen Duft.
Bald schon war ich völlig benebelt. Auch von dem Wein. Der Musik. Der ungewohnten Atmosphäre. Carlos Nähe; gierig kostete ich von dem frischen, grünen Kügelchen. Und zu meiner Freude rutschten auch Carlos Hände wieder unter mein Kleid, zärtlich, fordernd. Ich fühlte mich so beschwingt, fast schwerelos, lachte, kicherte, drückte meinen Leib Carlos Händen entgegen. Mir war, als wäre nicht ich in meinem lüsternen Körper. Es war, als sei etwas in ihn hinein geschlüpft, das ich nicht kannte, von dem ich nicht wusste, ja, nicht einmal ahnte, dass es das gab.
Schon bald vermischte sich Carlos unterdrücktes Stöhnen mit meinen leisen Seufzern.
Tell Laura I Love Her
Immer heißer, immer fordernder spürte ich Carlos Lippen auf meinem Mund. Mir war, als würde ich entschweben.
Wie durch Nebel nahm ich wahr, dass sich der Raum wieder füllte, gelacht, getanzt, getrunken, gehascht, geküsst wurde. Ich fand alles wunderbar. Carlos war an meiner Seite, fast in mir. Lustvoll spürte ich seine Hände, seine Küsse, seinen heißen Atem und schwamm selig auf einer Welle des Glücks.
„Ich zeige dir was.“ Carlos löste sich von mir. Der antiquare Schrank in der Ecke neben dem Fenster kam auf mich zu. „Das ist ein Sesamöffnedichschrank.“ Carlos küsste mich wieder. Aus dem Schrank purzelten die wundersamsten Dinge.
„Diese zwei Steinkrüge“, sagte Carlos stolz, während seine Hände zärtlich darüber glitten wie eben noch über meinen Körper, „habe ich selbst aus den Tiefen des Meeres geborgen. Sie sind Jahrhunderte alt. Wie auch dieses seltene Gestein. Und diese Muscheln.“

Gebannt starrte ich auf Carlos geöffnete Hände. Vorsintflutliches, absonderliches Meeresgetier bewegte sich darauf, kroch auf unsichtbaren Wegen im Schneckentempo auf mich zu. Eines nach dem anderen. Drehte sich im Kreis. Wurde größer und größer. Glänzender. Bunter. Marschierte an mir vorüber, wie Soldaten bei einer Parade, verschwand dann in umgedrehter Reihenfolge wieder im Schrank, dessen Türen sich wie durch Zauberhand von selbst öffneten und schlossen.
Nur ein kleines Stückchen Papier schimmerte wie graue Seide, wirbelte durch den Raum direkt vor meine Füße. Schnell hob ich es auf. Da verwandelte es sich in einen schwarzen Stein. Der glänzte und funkelte plötzlich, wie echtes Gold.

„Es ist ein Glücksstein“, sagte Carlos, „wenn du ihn in dein Portemonnaie legst, wird es nie mehr leer sein.“
„Und warum hast du dann kein Geld?“
„Weil man so einen Stein geschenkt bekommen muss.“
„Aha“, scherzte ich, „da könnte ich ihn dir ja wieder zurückschenken.“
„Das würde auch nichts nutzen.“

In der Ecke neben der Couch prangte noch ein außergewöhnliches Stück. Das war der alte, echte Haremsstuhl. Bezogen mit rotem Samt. Verziert mit Gold und Elfenbein. Einsam stand er da in seiner Pracht. Wie Carlos.

„So richtig wohl fühle ich mich hier nicht.“ Der Stuhl schob sein Lehnenmaul hin und her. „Ich habe schon glanzvollere Zeiten erlebt. Ich gehöre in ein Museum. Auf glänzendem Parkett müsste ich stehen. In einem großen, prunkvollen Raum. Und unzählige Kronleuchterkerzen müssten auf mich herabstrahlen. Alte Meister mir zulächeln. Von goldgeschmückten Wänden. Und Menschen, die ehrfurchtsvoll in Latschen über das Parkett schlurfen, dürften mich bestaunen. Ja, das wäre ein Leben, das mir geziemte. Aber so.“ Der vernachlässigte Stuhl schloss traurig sein Maul.
„Wenn der Kuckuskleber kommt“, sagte Carlos, „verstecken wir diesen Haremsstuhl immer unter einem großen Wäscheberg.“
„Und jetzt?“
„Jetzt machen wir es uns wieder auf dem Sofa gemütlich.“

Nach einiger Zeit sah ich mich vorsichtig um. Niemand kümmerte sich um uns. Überall im Raum hatten sich Pärchen gebildet, die miteinander beschäftigt waren. Bunte Kleider, bestickte Jeans, durchlöcherte Hemden, Kunstblumen, Strumpfhosen, Schuhe aller Art lagen in einem chaotischen Durcheinander verstreut auf dem braunen Dielenboden. Einige Doppelpärchen entblößten sich gegenseitig. Andere waren zärtlich ineinander verschlungen. Auf dem breiten Bett tummelten sich laut stöhnend vier nackte Männer. Die alte, graue Katze war nirgends zu sehen. Zwei nackte Frauen streichelten sich gegenseitig. Ein dicker Mann tobte ächzend und schwitzend auf einer kleinen, dünnen Frau auf dem Boden. Stakkato. Stakkato.
Dieses unwirklich anmutende Bild umhüllte eine dumpfige Hitze. Die Glut eines animalischen Feuers. Erfüllt von leisen Schreien, brünstigem Jammer, dem schmatzenden Geräusch feuchter Küsse, gieriger Körper, der Phrenesie animalischer Wollust, vermischt mit den rockigen Klängen der Musik.
Only The Lonely.
Von Anneliese und Uschi entdeckte ich keine Spur. Auch nicht von Margaretha und Otto. Er würde uns doch wohl nicht heimlich filmen?
Erschreckt stieß ich Carlos von mir. Sein Begehrlicher war gerade im Begriff, mich zu erobern, ich seinem Drängen nachzugeben.
Nein. Nicht so. Plötzlich war mein Kopf wieder klar. Verflogen der Rausch.
„Carlos“, stammelte ich, „Carlos, ich...“
“Es soll Liebe sein.“ Er nahm meine Hand. „Ich verstehe dich. Hebe dich auf. Für den, den du liebst.“ Er küsste mich sanft auf die Wange. „Dann ist es am schönsten.“ 

Viele Jahre sind seitdem vergangen. Doch in meiner Erinnerung ist das Erlebnis mit Carlos so frisch und lebendig, als wäre es erst gestern gewesen. Der schwarze Stein hat in meinem Portemonnaie seinen ewigen Platz gefunden, er sieht aus wie ein winziges Stück Schiefer und funkelt nicht mehr wie pures Gold.

Ach, ja. Der Rausch kehrte zurück. Und ich war zwei Wochen auf dem Trip. 

 

 

 



 



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